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Palim Palim...
oder doch plem plem???


 
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GaMbIt
Häschen in der Grube
Abenteurer


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Wohnort: Summitland
Status: Verschollen


...und hat diesen Thread vor 6985 Tagen gestartet!


Fahrzeuge
1. Ford Maverick 2.4i 4x4
2. HPI Nitro RS4
BeitragVerfasst am: 03.07.2006 11:31:07    Titel: Palim Palim...
 Antworten mit Zitat  

Bundeskanzlerin Angela Merkel glänzt im Ausland. Zu Hause aber verkommt die Politik
zum ständigen Palim, Palim.


Es ist wie ein Wunder. Noch vor acht Monaten war die Republik dem Untergang geweiht.
Mit schreckgeweiteten Augen sahen wir der ökonomischen Verelendung entgegen.
Naturkatastrophen, Kulturkampf und globalisierte Heuschreckenschwärme rüttelten an
den Zäunen unserer Vorgärten. Dann kam der Regierungswechsel. Heute liest man in den
Zeitungen, wir seien Exportweltmeister und die drittstärkste Wirtschaftsnation der
Welt.

Das waren wir vorher schon. Auch bei den Arbeitslosenzahlen und dem zerrütteten
Zustand der sozialen Sicherungssysteme hat sich wenig getan. Geändert hat sich das
Wetter und die Stimmung im Land. Beides ist nicht den Taten der Großen Koalition zu
verdanken. Dennoch unterstützt das Wahlvolk mit fantastischen Zustimmungsquoten eine
Kanzlerin, der es bislang vor allem gelungen ist, bei ihren Antrittsbesuchen in den
Hauptstädten der Welt nicht vom roten Teppich zu fallen. Statt konsequente
Fortführung begonnener Reformen einzufordern, winken die Bürger glotzäugig die
größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik durch und lassen sich
durch die Fußball-WM von Hartz-IV-Streit, Föderalismusproblemen und völlig unklaren
Vorhaben auf dem Gesundheitssektor ablenken. Seit das Nicht-Regieren eine eigene
Kunstform geworden ist, treibt es erstaunliche Blüten.

Welches Geheimnis verbirgt sich hinter Merkels Erfolgen? Ein bewährter »Trick«
postfeministischer Frauen besteht darin, sich kräftig unterschätzen zu lassen, um
dann durch Einhaltung der Normalnull-Linie den Eindruck einer brillanten Leistung zu
erzeugen. Auch hat Frau Merkel die abgekühlten transatlantischen Beziehungen auf
kuschelige Zimmertemperatur angewärmt. In der schnelllebigen Mediengesellschaft ist
der Irakkrieg auf diese Weise wie durch Zauberhand zu einem Problem der Ära Schröder
geworden und jene Deutschen, die noch vor wenigen Jahren in Millionenscharen gegen
die militärische Intervention im Mittleren Osten demonstrierten, gönnen sich
heimlich ein erleichtertes Aufatmen.

Darüber hinaus scheint die Kanzlerin eine Glückssträhne zu haben. Erst macht sich
Gerhard Schröder zum Reform-Buhmann, woraufhin sich Frau Merkel als Mutter der
Mäßigung präsentiert. Gleichzeitig bindet die Vogelgrippe für Wochen die
Untergangsängste der deutschen Hysterikernation, so dass sich der Staat - ebenso wie
beim glücklich aufgelösten Geiseldrama um zwei Leipziger Ingenieure - zur
Abwechslung mal wieder als liebender Vater zeigen kann. Zu allem Überfluss lässt
eine poröse Besserung der Wirtschaftsdaten die Stimmungsmache der Medien in die
nächste Haarnadelkurve gehen. Über alldem strahlt die Kanzlerin als eine Ikone der
Ermüdeten, als Flaggschiff der politischen Resignation. Denn das vorherrschende
Gefühl ist nicht Zuversicht. Sondern Erleichterung über eine Pause im notorischen
Gejammer.

Und genau hier liegt ein verblüffendes Phänomen. Einst galt die Auseinandersetzung
zwischen politischen Ideen als das Wesen der Demokratie. Heute wird Frau Merkel
dafür gepriesen, dass sie ultimative Harmonie in die politische Debatte gebracht
hat. Die Wähler sind glücklich, wenn die endlose Streiterei einem Ringelpiez mit
Anfassen weicht. Man setzt sich an einen Tisch, ist nett zueinander und erklärt
kleine Brötchen zum gemeinsamen Leibgericht. Das funktioniert, weil ein
uneingeweihter Beobachter niemals entscheiden könnte, welcher Minister zu welcher
Partei gehört. Auf beiden Seiten des politischen Lagers regiert aufgeklärte
Sozialdemokratie, gepaart mit einem Wirtschaftsliberalismus (neudeutsch:
»Sachzwang«), der allseits als unausweichlich empfunden wird. Selbst die Chefin
einer konservativen Partei würde es nicht wagen, sich zur Gruppe der Starken und
Erfolgreichen zu bekennen. Sie dürfte nicht laut sagen, dass sie ihre Arbeitskraft
den ökonomischen und kulturellen Trägern dieses Systems widmen will, statt sich vom
Wehklagen über soziale Ungerechtigkeiten paralysieren zu lassen. Das käme einer
Eintrittskarte zum Club der Unmenschen gleich. Auf der anderen Seite besitzt die
Kanzlerin nicht genügend Macht (oder Bereitschaft), um Wirtschaft und Industrie, die
sich permanent auf die Härten der Globalisierung berufen, in ihre Schranken zu
weisen.

Völlig ungeklärt bleibt, ob Aussagen wie die beispielhaft genannten überhaupt der
Meinung der Kanzlerin entsprechen. Vor der Wahl im Herbst 2005 wurde Frau Merkel
gern als Mysterium porträtiert. Ihr politisches Profil hat nach wie vor das Zeug zur
Quizfrage.

Erstaunlicherweise scheint diese Profillosigkeit zur politischen Lage zu passen.
Politik beschränkt sich hierzulande seit langem auf die Frage, wie die desolate
Finanzlage zu konsolidieren sei. Ohne zu entscheiden, wo unsere längerfristigen
Prioritäten liegen, betätigen sich sämtliche Politiker als Löcherstopfer. Das
Kabinett wird zu einem think tank für die Entwicklung von Notlösungen, Regieren zur
Übung in angewandtem Pragmatismus. Und die Regierungschefin leistet Großes als eine
Mischung aus Moderator, Außenhandelsvertreter und Pressesprecher. Und das macht sie
nicht schlecht. Was sie zu dieser Rolle qualifiziert, ist gerade das Fehlen von
identitätsstiftenden Kennzeichen. Frau Merkel kommt aus Ostdeutschland, ohne ein
»Ossi« zu sein. Sie ist bei den Christdemokraten, steht aber nicht für christliche
Werte. Sie ist eine Frau und kümmert sich nicht um weibliche Belange. Sie hat einen
Doktortitel in Physik, ohne sich mit dem akademischen Leben zu identifizieren. Sie
ist weder konservativ noch sozial noch liberal. Man könnte meinen, dass es sie gar
nicht gibt.

Gerhard Schröder hat vorgemacht, wie man für eine Partei ins Kanzleramt einziehen
kann, ohne sich allzu sehr mit ihren Prinzipien zu belasten. Dafür nannte man ihn
einen Machtmenschen und Medienkanzler. Aber im Vergleich zu Frau Merkel war Schröder
geradezu ein Mann der Ideen. Die Kanzlerin musste nur noch das Machtgetue und den
Medienrummel weglassen, um zur leeren Projektionsfläche zu werden. Und die Leute
danken es ihr.

Somit lebt der Merkel-Erfolg vom perfekten Andocken an die aktuelle Mentalität. Wir
befinden uns an einem Punkt in der geistesgeschichtlichen Entwicklung, an dem
kollektiv gestützte Gewissheiten weitgehend einem - auch politischen -
Individualismus gewichen sind. Gesellschaftliche Institutionen wie Kirche, Familie
und Vaterland haben an Einfluss verloren. Erfreulicherweise wurde auch die Bedeutung
politischer Ideologien von den Dekonstruktionsbemühungen der Postmoderne
zurückgedrängt. Effekt dieser Prozesse ist eine Weltanschauung, in der Vernunft vor
Prinzipien rangiert. Auf den leeren Schlachtfeldern vergangener Überzeugungskämpfe
macht sich der Pragmatismus breit. Ratlos stehen die Menschen vor dem Wahlzettel,
weil ihr Politikverständnis nicht von der Identifikation mit einer bestimmten Partei
bedingt wird. Entsprechend werden sie von Kompetenzteams und Expertengremien
regiert. Das im alten Sinn Politische sammelt sich in kleinen Gruppierungen - und
wirkt dort bereits ein wenig unzeitgemäß.

Sieht es also schlecht aus für die Parteiendemokratie, aber umso besser für einen
nüchternen, problemorientierten Regierungsstil? Das mag stimmen und vielleicht ist
ein Teil der guten Stimmung im Land auf eine zunehmende Anpassung der Politik an die
Seelenlage der Bevölkerung zurückzuführen. Es sollte aber nicht vergessen werden,
dass das Fehlen von Überzeugungen nicht nur ideelle, sondern auch praktische
Nachteile besitzt. Ohne Zukunftsvision ist es schwierig, tragfähige Konzepte zu
entwickeln, die über das Entscheiden auf case-to-case-Basis hinausgehen. Der Politik
fehlt es an Rückgrat gegenüber den klar definierten Interessen der Wirtschaft und
die Politiker neigen zur Wankelmütigkeit, um nicht zu sagen: zum Opportunismus. Zwar
begünstigt Sachlichkeit die Bereitschaft zu Kompromissen. Resultat sind jedoch
totverhandelte politische Wolpertinger wie die Reichensteuer, das Elterngeld und die
reformierte Ich-AG.

Hinzu kommt, dass die Menschen mit dem Niedergang gesellschaftlicher Institutionen
auch das Gefühl für sozialen Rückhalt im außerstaatlichen Bereich verloren haben.
Wenn weder Familie noch Kirche für Sinnstiftung und Sicherheitsnetze sorgen, sehen
die Bürger im Staat ihren einzigen Helfer in der Not. Entsprechend panisch reagieren
sie auf die Abwesenheit von klaren Zukunftsaussagen - genau wie auf jeden
vorsichtigen Hinweis, der ihnen sagen soll, dass sie, Sozialdemokratie hin oder her,
in erster Linie selbst für ihr Leben verantwortlich sind.

Bevor wir aber zu ausführlich über solche Fragen nachdenken, freuen wir uns lieber
noch ein bisschen über eine Kanzlerin, die selbst der amerikanische Präsident als
klare Denkerin lobt, auch wenn nicht gesichert ist, ob George Bush auf diesem Gebiet
als Fachmann gelten kann. Und was passiert, wenn die kleinen Brötchen verzehrt sind
und irgendein Ereignis in der politischen Lage nach deutlichen Entscheidungen
verlangt? Dann wird sich zeigen, ob Angela Merkel mit den »Mechanismen von
Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch« auch in der politischen Realität
umgehen kann. Immerhin hat sie in ihrem Erstberuf eine Doktorarbeit darüber
geschrieben.

Von: JULI ZEH (Süddeutsche Zeitung - Magazin #26 30.06.2006)

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Es ist leichter einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil
(Albert Einstein)

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vishnu
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Abenteurer


Mit dabei seit Mitte 2005


BeitragVerfasst am: 03.07.2006 15:05:07    Titel:
 Antworten mit Zitat  

Klasse.

Ich mag Juli Zeh's Stil, auch wenn er etwas konservativ ist..... Smile
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